DER LESEMANN

BLOG - BEITRÄGE

Dieser Ausschnitt aus einem uns unbekannten Werk von Erich Kästner fasziniert und hält die Idee des Lesens in Worten fest. Der Computer-Mensch würde sagen das ist vielleicht so etwas wie ein “Code-Snippet”, … und den konnten wir nicht einfach unbekannt irgendwo liegen lassen.

„Wenn ein Kind lesen gelernt hat und gerne liest, entdeckt und erobert es eine zweite Welt, das Reich der  Buchstaben. Das Land des Lesens ist ein geheimnisvoller, unendlicher Erdteil. Aus Druckerschwärze entstehen  Dinge, Menschen, Geister  und Götter, die man sonst nicht sehen könnte. Wer noch nicht lesen kann, sieht nur, was greifbar vor seiner Nase liegt oder steht: den Vater, die Türklingel, den Laternenanzünder, das Fahrrad, den Blumenstrauß und, vom Fenster aus, vielleicht den Kirchturm. Wer lesen kann, sitzt über einem Buch und erblickt mit einem Male den Kilimandscharo oder Karl den Großen oder Huckleberry Finn im Gebüsch oder Zeus als Stier, und auf seinem Rücken reitet die schöne Europa. Wer lesen kann, hat ein zweites Paar Augen, und er muss nur aufpassen, dass er sich dabei das erste Paar nicht verdirbt.

Ich las und las und las. Kein Buchstabe war vor mir sicher. Ich las Bücher und Hefte, Plakate,  Firmenschilder, Namensschilder, Prospekte, Gebrauchsanweisungen und Grabschriften,, Tierschutzkalender, Speisekarten, Mamas Kochbuch, Ansichtsgrüße , Paul Schurigs Lehrezeitschriften, die „ Bunte Bilder aus dem Sachsenland“ und die klitschnassen Zeitungsfetzen, worin ich drei Stauden Kopfsalat nach Hause trug.

Ich las, als wär es Atem holen. Als wär ich sonst erstickt. Es war eine fast gefährliche Leidenschaft. Ich las, was ich verstand und was ich nicht verstand.“ Das ist nichts für dich“, sagte meine Mutter“,  das verstehst du nicht!“ Ich las trotzdem. Und ich dachte: „ Verstehen denn die Erwachsene alles, was sie lesen?“ Heute bin ich selber erwachsen und kann die Frage sachverständig beantworten. Auch die Erwachsenen verstehen nicht alles. Und wenn sie nur läsen, was sie verstünden, hätten die Buchdrucker und die Setzer in den Zeitungsgebäuden  Kurzarbeit.

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