Tipp – Vorlesen in der Heimerziehung
Lieber Lesemann!
Du hast dir gewünscht, dass ich dir einmal aus einer anderen Sicht zu meinen Erfahrungen beim “Vorlesen“ schreibe und natürlich warum ich lesen und vorlesen für so wichtig halte. Es sollten Tipps aus der Praxis werden.
Meine berufliche Tätigkeit als Erzieherin und Sozialpädagogin sowohl im Bereich der Heimerziehung als auch im Internat an einer Blindenschule liegt zwar schon einige Jahre zurück, dennoch denke ich, dass meine Erfahrungen auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur als Vorleserin, dem einen oder anderen von Interesse sein könnten.
Speziell bei meiner Arbeit im Heim erfuhr ich, wie hilfreich es sein kann, durch eine ganz gezielt ausgewählte Vorlesegeschichte, dem Kind, das ja jeweils seine ganz eigenen Lebensgeschichte mitbringt, ganz unaufdringlich näher zu kommen. Zum Einsatz kamen sowohl phantastische Erzählungen, wie auch wirklichkeitsnahe Alltagsgeschichten, die von realistischen Gegebenheiten erzählten, die die Kinder aus ihrer Umwelt kannten. Jedes Kind hat eine ganz eigene, wunderbare , vertrauensvolle Fähigkeit eine solche Geschichte zu adaptieren, sich beispielsweise mit einem kindlichen Helden zu identifizieren, dessen positiven Charakter zu erkennen, oder auch Probleme in der Geschichte aufzudecken, zu ordnen und zu lösen. Es spürt, dass es als Teilnehmer der Geschichte ernst genommen wird und sich sicher darin bewegen kann.
Gerade das Vorlesen vermittelt dem Kind eine besondere Art der Zuwendung durch den Vorleser, dessen Vorlesegeschichte in Geborgenheit und Wärme. Eine optimale Voraussetzung, um auch unbequeme Themen ansprechen zu können.
Ohne, dass man als Erwachsener den ganz persönlichen Gefühlen eines Kindes zu nahe treten muss, hat dieses nun die Möglichkeit, in der spürbaren Nähe des Vorlesers und mit einem sicheren, emotionalen Abstand zur in der Geschichte angesprochenen Problematik, eigene Erlebnisse und Defizite zu erkennen und persönlich aufzuarbeiten.
Themen wie Angst, Schuldgefühle, Anderssein, Dazugehören, Vorurteile, Aggression bis hin zu einfachen Problemlösungsvorschlägen und vieles mehr, wirken hier lange nicht mehr so bedrohlich, wie in einem direkten Gespräch.
Ich erfuhr, wie wertvoll es gerade bei Kindern sein kann, wenn die Geschichte zum Leser / Zuhörer und der Leser / Zuhörer mitten in die Geschichte hinein findet.
Mir als Vorleser eröffnete sich bereits im ‘Währenden’, wie auch im ‘Danach’ der Geschichte ein breites Spektrum an Möglichkeiten, hier pädagogisch weiter zu „ entwickeln .
Bei leseerfahrenen, etwas älteren Kindern endete meine Vorlesekunst auch manchmal ganz bewusst mitten in einer spannenden Szene, was das Kind zum eigenständigen Weiterlesen animierte. Hinterher konnte es dann selbstständig entscheiden, ob die Geschichte abgeschlossen war oder ob es noch einer gemeinsamen Nachbetrachtung bedurfte.
Es grüßt dich und alle Interessierten
Anke
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