Frau Boie, wie haben Sie das Lesen für sich entdeckt?
Ich habe mir als Kind schon sehr früh das Lesen selbst beigebracht, wie das damals viele gemacht haben. Bücher waren ja das einzige Medium, das es gab, um aus dem Alltag auszubrechen. Mir ist auch vorgelesen worden, erst Wilhelm Busch und zu meiner großen Begeisterung später „Pippi Langstrumpf“. In den Büchern haben Kinder Dinge erlebt, die es in meinem Nachkriegsalltag nicht gab.
Sie stammen aber nicht aus einem akademischen Elternhaus.
Meine Eltern haben dennoch beide gelesen, die Bücher kamen vom Bertelsmann-Lesering. Meine Eltern wollten, dass ich einen guten Bildungsabschluss habe, auch wenn sie das nicht mit Büchern in Verbindung gebracht haben. Dabei wissen wir heute, dass Bücher Kindern den Zugang zu vielen Dingen ermöglichen. Meine Eltern hatten nicht viel Geld. Büchereien waren mein ganz großes Glück. Einmal die Woche war ich dort, um mich reichlich auszustatten.
Welches Buch hat Sie geprägt?
Mit fünfzehn bekam ich zu Weihnachten „Weine, du geliebtes Land“ geschenkt. Es kam aus einem Antiquariat. Der Besitzer muss ein kluger Mann gewesen sein, er hatte die Bücher gut ausgewählt. In diesem Buch ging es um die Apartheid in Südafrika. Die Erschütterung, die dieses Buch in mir verursachte, kann ich bis heute spüren.
Was kann Literatur leisten?
Sie kann nicht nur Freude machen, sondern auch unglaublich gut trösten. Und sie kann natürlich auch Türen aufstoßen. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass manches über Sprache gelingen kann, was über das Bild nicht funktioniert. Weil ich beim Leses eines Buchs in meinem eigenen Innern stöbern muss, um die Bilder und Gefühle dafür zu entwickeln. Ein Buch ist immer notwendigerweise mit meinen eigenen Erinnerungen, Erfahrungen und Gefühlen verknüpft. Mehr als ein Film. Der kommt auch ohne aus. Was beispielsweise beim Wort „Vater“ im Kopf von jemandem passiert, das wird stark davon abhängen, wie man den eigenen Vater erlebt hat. Unsere eigene Erfahrung bestimmt, wie wir Bücher lesen.
Diese Erfahrung bleibt vielen Menschen verwehrt. Untersuchungen belegen, dass fast jeder fünfte Viertklässler nicht sinnentnehmend lesen kann. Was bedeutet das?
Das heißt, dass sie die Buchstaben zwar zusammenziehen können und so die Lehrer und andere hereinlegen können. Aber das fällt ihnen so schwer, dass der Kurzzeitspeicher nicht ausreicht, um sich das bis zum Schluss zu merken, was am Anfang stand. Vereinfacht ausgedrückt. Deshalb können sie den ganzen Satz nicht verstehen. Und für Texte reicht diese Lesefähigkeit gar nicht aus. Für sechs Prozent der Kinder reicht die Fähigkeit nicht einmal auf der Wortebene aus, was auch keine ganz geringe Zahl ist. Und Pisa hat eben bestätigt, dass diese 20 Prozent auch noch für die 15-Jährigen gelten. Was das für deren Berufsbildung heißt, kann man sich ausmalen. Das ist dramatisch. Auch für die Demokratie.
Warum das?
Qualifizierte Meinungsbildung verläuft immer noch zum größten Teil über Texte. Diese Menschen haben es nie gelernt, komplexe Zusammenhänge aus Texten zu erfassen. Als Erwachsene können sie keine Zeitungen lesen. Auch wenn das Fernsehen sich bemüht, komplexe Zusammenhänge darzustellen, bin ich mir sicher, dass sich diese Menschen diese Sendungen nicht ansehen werden. Die Konsequenzen für die Demokratie sind noch gar nicht richtig abzuschätzen. Der Populismus nimmt aber zu. Und gerade Menschen, die nicht lesen können, die keinen qualifizierten Beruf haben und deshalb an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, neigen nachvollziehbarerweise dazu, Sündenböcke zu suchen. Die greifen schnell zu populistischen Erklärungen. Das halte ich für eine große Gefahr. Es ist kein Zufall, dass in Diktaturen immer zuerst die Journalisten verfolgt und Bücher verbrannt werden.
Was kann man tun? Was müssen Eltern und Lehrer leisten? Wo hakt es?
Es beginnt ganz früh bei der Sprachentwicklung. Viele Eltern sprechen nicht mehr viel mit ihren Kindern, weil den ganzen Tag im Hintergrund unbeachtet der Fernseher läuft, das Handy eine Whatsapp meldet, auf der Konsole gespielt oder Youtube geguckt wird. Und viele Eltern sind auch des Deutschen nicht so mächtig. Und da sind die Kitas gefordert: Erzieherinnen und Erzieher müssten für alltagsintegrierte Sprachförderung und Vorlesen qualifiziert sein, wir bräuchten mehr von ihnen, und das Gleiche gilt auch für Schulen.
Sie finden, es gibt zu wenige Lehrer?
Jeder weiß, dass wir viel zu wenig Grundschullehrer haben. Und im Studium müssten ihnen die neuesten Methoden der Lesevermittlung beigebracht werden. Das findet oft nur am Rande statt. Dabei weiß man inzwischen so viel. Wir haben aber das Problem des Föderalismus: Während das eine Bundesland auf eine Maßnahme setzt, macht das andere Bundesland etwas anderes. Es muss doch gemeinsam entschieden werden, das zu machen, was offenbar gut funktioniert. Das müsste in der Kultusministerkonferenz sehr viel mehr passieren. Für die Kitas und die Elternarbeit fehlt in den Kommunen viel Geld, den Bundesländern fehlt es für die Studienplätze und Einstellung der Lehrer.
Was ist zu tun?
Der Bund, der es geschafft hat, den Digitalpakt möglich zu machen, weil da eine massive Lobby dahintersteckt, müsste etwas Ähnliches für das Lesen tun. Wir brauchen einen Lesepakt. Es braucht Bundesmittel, die auf allen Ebenen genutzt werden können. Uns fehlt bisher schlichtweg die Lobby.
Sie waren selbst Lehrerin. Erkennen Lehrer die leseschwachen Kinder?
Wir wissen, dass nur etwa 30 Prozent entdeckt und erkannt werden. Aber wenn sie es tun, welche Möglichkeiten haben die Lehrer, diesen Kindern zu helfen? In anderen Ländern müssen Lehrer schon früh nach ihnen suchen und dann werden unterstützende Maßnahmen angeboten. Wir haben ehrenamtliche Helfer – aber nicht genug. Dadurch wird schon einiges erreicht. Doch der Staat hat einen Bildungsauftrag. Wir können das nicht von Ehrenamtlichen erwarten. Und auch nicht von den Eltern. Viele können das aus unterschiedlichen Gründen nicht leisten. Lesenlernen bleibt die Aufgabe der Gesellschaft und des Staates.
Ihr Plädoyer für das Lesen ist aber keines gegen das Digitale?
Nie im Leben. Aber das Lesen ist grundlegender. Ohne Lesen geht gar nichts. Es gibt nichts, was ohne Lesen funktioniert.
Anja Wasserbäch
Aus: Stuttgarter Zeitung, Wochenende, 14./15.3.2020