Die Frage lässt die Pädagogen in der Welt nicht los. Egal ob man sich der Thematik von der Seite der Anthropologen (Eibel-Eibelsfeld oder Gehlen), individualpsychologischen Ansätzen der Psychologie (Adler) oder der neueren Sozialwissenschaften (vielleicht beginnend mit Klafki bis hin zu Zimbardo) nähert – immer liegt man ein bischen falsch und die jeweils andere Fraktion zeigt mit dem Finger auf den oder diejenigen, welche den Kopf “frech” aus dem Sand herausstreckten. Lösung aus diesem Dilema verspricht einzig eine statistisch signifikant untermauerte wissenschaftliche Arbeit. Unter den Stichworten “Leselücke” oder “Lesekompetenz” findet man spätestens seit dem Ende des letzten Jahrzehnts Arbeiten der Universität Grenoble um den Forscher Pascal Pansu (veröffentlicht: Journal of Experimental Social Psychology, Vol. 65, July 2016). Die dortigen Ergebnisse geben uns Antworten auf die Anfangs gestellte Frage und machen uns fit für eine angemessene Behandlung und Ausgleich beim Vorlesen und in der Lese- und Lernförderung.
Folgend einige Stichworte dazu:
Mädchen und Jungen sind bezüglich des Lesens nicht durch biologische Unterschiede determiniert, sondern durch die aus der Erziehung in den jeweiligen kulturellen Erziehungsidealen als Vorurteil angelegten Stereotypen (“Bedrohung durch Stereotype”). Mädchen zeigen sich dem Vorurteil gemäß gegenüber Jungen sehr viel stressresistenter und Jungen erhalten höhere Scores wenn die Testsituation eher einer stressfreien Spiel- und Wettbewerbssituation ähnelt (siehe den kleinen Mann rechts mit seiner Frage “wozu?”). Dies bedeutet nun, dass das Vorurteil “Mädchen können besser lesen” in dem Weg über die Selbstwahrnehmung der Mädchen deren Leistung beeinflußt. Eine Situation welche wir in den Sozialwissenschaften in umgekehrter Form aus der Mathematik kennen.
Lesen ist also vom Bild der Frau in unserer Gesellschaft her stark auf die Frau bezogen – umgekehrt Mathe vom Bild des Mannes. Diese Beziehung wird über das jeweilige Stereotyp in der frühen Erziehung dem Kind mitgegeben und wirkt dort nun begrenzend/verstärkend.
Wenn Sie solche “Strömungen” in jeder Form im Unterricht, im “interaktiven” Vorlesen feststellen, dann sind Sie gut beraten dies bei Kollegen oder Eltern zu thematisieren oder sogar dies mit den Kindern in kindgerechter Form zu besprechen. Als kleine Motivation bieten wir Ihnen für dieses Gespräch das Plakat rechts an, die Umsetzung überlassen wir Ihrer sicher kreativen Methodik/Idee.
Diesen Tipp kann man sicher noch auf viele andere Belange / Themen ausdehnen – leider sind uns eben diese Zusammenhänge oft nicht präsent. So entstand die Motivation zu diesem Artikel auch u.a. im Lesemann, als er durch die Schulleitung auf die besonderen Zusammenhänge von unterschiedlichen Stereotypen an einer Brennpunktschule (unterschiedliche Bezugspersonen usw.) angesprochen wurde.
Über die Wirkung von Stereotypen (oder auch anderer “weicher Lernziele”) in der Praxis der Erziehungsarbeit, in der Kommunikation und generell im Denken informieren wir gerne mit Vorträgen und Seminaren. Fragen Sie einfach hierzu an – es ist uns wichtig.
Viel Erfolg bei diesem wichtigen Baustein
Reiner Bing